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Martin Tim – mein kleines Kind

Die Hebamme und Filmemacherin Katja Baumgarten berichtet über ihre Entscheidungsnot nach einer traurigen pränatalen Diagnose und von der kurzen Zeit mit ihrem vierten Kind. Ihr Sohn Martin lebte nach seiner Geburt noch dreieinhalb Stunden.

Meine Familie

Meine großen Kinder merken bald, dass mit mir „etwas nicht stimmt“. Als sie mich fragen, erzähle ich ihnen, was mich bewegt. Mein ältester Sohn ist zwölf, meine Tochter zehn, mein Jüngster drei Jahre alt. Ich bin beeindruckt, wie feinfühlig und klug die beiden Großen über alles denken. Sie sind Richtschnur für meine Überlegungen – ich werde ihnen irgendwann erklären müssen, warum ich so oder so gehandelt habe. Meine Entscheidung wird ein Zeichen setzen: Wie viel „Abweichung vom Normalen“ kann unsere Familie mittragen? Wie wird es das Lebensgefühl meiner Kinder berühren, falls ich mich gegen ihren ungeborenen Bruder entscheiden muss? Was denken sie, könnte passieren, falls ihnen selbst etwas zustößt? Wie werden sie zu mir stehen, falls ich irgendwann auf Hilfe angewiesen bin?

Mein Partner hat sich zu Beginn der Schwangerschaft von mir getrennt. Das macht die Krise nicht leichter. Er versteht meinen Konflikt nicht. Für ihn ist ein Schwangerschaftsabbruch – auch für das „arme Kind“ – die beste Lösung. „Je größer es wird, desto größer werden die Probleme mit ihm sein“, sagt er zu mir.

Im Schock

Es folgen die zwei schlimmsten Wochen meines Lebens. Ich bin verwundet und unglücklich, dass mein Kind nicht gesund ist und nicht bei uns bleiben kann. Jeden Morgen wache ich mit Panik auf und habe Angst, ich werde den Tag nicht überstehen.
Am liebsten würde ich flüchten und alles hinter mir lassen. Aber das Baby, über das ich nun etwas erfahren habe, das mir den Boden unter den Füßen wegzieht, ist mitten in mir. Ich stecke in einer Falle. Ich muss eine Lösung finden und sie selbst tragen und durchstehen, egal für welchen Weg ich mich entscheide.

Ein eigener Weg

Es folgen viele Gespräche in meiner Familie, mit Freundinnen und Freunden, vor allem auch mit unserer Hausärztin und unserem Hausarzt, beide erfahrene Geburtshelfer, mit denen ich seit vielen Jahren als Hebamme bei Hausgeburten zusammenarbeite. Schließlich zeichnet sich mein ganz eigener Weg ab: Weder möchte ich meinem kleinen Sohn vorzeitig das Leben nehmen lassen, noch ihn zum Leben zwingen. Die Untersuchungen haben offenbart, dass sein Körper nicht dafür geschaffen ist. Ich möchte ihn austragen und zu Hause zur Welt bringen, damit er im Kreis seiner Familie sein kurzes Leben in Ruhe verbringen kann. Und er soll auch beschützt sterben können.

Meine Ärztin und mein Arzt unterstützen uns – beide werden uns bei der Hausgeburt zur Seite stehen. Auch eine erfahrene Hebamme wird uns betreuen. Sobald dieser Weg vorstellbar geworden ist, beruhige ich mich. Ich möchte die Zeit mit meinem kleinen Sohn und seinen großen Geschwistern so schön und erfreulich erleben, wie es geht – nicht immer nur Trübsal blasen. Es ist Sommer. Ich sage alle beruflichen Termine ab, soweit das möglich ist. Und wir genießen bei allem Abschiedsschmerz und der Sorge, was uns bevorsteht, die folgenden Monate auf eine sehr bewusste Weise. Sie ist mit dem vorausgesehenen nahen Tod umso intensiver. Wir stellen uns vor, dass der Kleine alles in meinem Bauch miterlebt, was uns Freude macht. Wir nennen ihn Martin.

Geboren und gestorben

Martin wird Ende Oktober an einem Nachmittag geboren – zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Es wird eine leichte Geburt. Meine Hebamme und beide Ärzte sind bei uns. Es ist, wie gehofft, ein Kreis von vertrauten Menschen um uns, die Martin begrüßen, seine Lebenszeit mit uns verbringen und ihm und mir zur Seite stehen. Martin atmet, als er zur Welt kommt – das ist schon ein Geschenk. Und dann liegt er auf meiner Brust, schaut und strahlt entspannte Ruhe aus. Er trinkt an meiner Brust, sein dreijähriger Bruder zeigt ihm sein Lieblingsauto, seine große Schwester und sein großer Bruder halten ihn eine Zeit lang im Arm, seine Großmutter sagt, dass sie noch nie solche weichen Haare gestreichelt hat. Am Abend schläft er irgendwann ein und stirbt leise, fast unbemerkt – nach dreieinhalb Stunden Lebenszeit. Er liegt noch lange so auf meiner Brust, während sich die Last der Verantwortung langsam löst.

Danach

Ich bin nicht nur traurig. Vor allem bin ich erleichtert. Ich hatte in den vergangenen Wochen manchmal Angst, dass Martin leiden könnte. Aber dies hat er für niemanden ausgestrahlt, der bei ihm war. Seine Fehlbildungen waren deutlich zu sehen und haben uns gezeigt, dass er wirklich nicht lange bei uns bleiben konnte. Aber sie haben uns nicht erschreckt, wie ich es anfangs im Sommer gefürchtet hatte. Alles ist erstaunlicherweise so geschehen, wie ich es mir für ihn gewünscht hatte – wie man es aber nicht hätte erzwingen können. Meine Dankbarkeit für die große Unterstützung und dafür, dass sich alles gut gefügt hat, ist erst einmal größer als mein Schmerz. Die wilde Traurigkeit und die Verzweiflung habe ich im Sommer hinter mir gelassen. Martins Leben war kurz. Ob es weniger bedeutet hat als das meiner fast 100-jährigen Großeltern – wer wollte das beurteilen?

Die Kinder haben ihrem kleinen Bruder die letzten Blumen aus dem Garten in seinen Sarg gelegt. Wir haben Martin in seinem schönen Grab beerdigt. Seitdem sind viele Jahre vergangen, wo mich sein Dasein bei uns auf stille Weise begleitet, mir Inspiration schenkt und meinem Leben erstaunliche neue Wendungen gegeben hat. Wie meine anderen drei Kinder hat er mich auf besondere und einschneidende Weise geprägt. Seine Zeit bei uns beeinflusst meine Gedanken weiterhin.

Stand: 28.02.2019