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Interview: „Das Wochenbett dauert 40 Tage“

Sich erholen, die Geburt seelisch verarbeiten, das Baby kennenlernen – die Psychologin Colette Marie Mergeay lädt Mütter dazu ein, im Wochenbett Alltagspflichten hinten anzustellen und sich, wenn möglich, eine Auszeit zu nehmen. Ein Interview.

Was ist das Wochenbett?

Das Wochenbett ist eine ganz besondere Zeit – eine Auszeit zur Erholung und des Sich-Herantastens an ein neues Leben. Diese Zeit ist begrenzt und sehr kostbar. Nach der Geburt eines Kindes stehen besondere Dinge an, die Zeit (40 Tage) und Raum (das „Bett“) brauchen.

Warum 40 Tage?

In vielen Kulturen und Religionen hat die Zahl 40 als Symbolzahl der inneren Einkehr und der Bewährung eine besondere Bedeutung. Meine Erfahrung sagt, dass 40 Tage Wochenbett einen guten Orientierungsrahmen darstellen. Die meisten Kulturen haben Rituale zum Wochenbett entwickelt, auch in Deutschland.

Warum ist das Wochenbett wichtig?

Ein neuer Mensch ist geboren, wird von seinen Eltern empfangen und beginnt sein Leben auf dieser Welt in der Beziehung zu ihnen. Das verlangt Ruhe und Zeit. Darüber hinaus braucht die Mutter jetzt Erholung, körperlich und seelisch. Deshalb sollte es selbstverständlich sein, dass die Wöchnerin versorgt und von Alltagspflichten entlastet wird. Ja, sie darf gewissermaßen thronen in ihrem Haus mit dem Kind, mit ihm kuscheln und es kennenlernen.

Auch für den Vater ist es wichtig, sich diese Auszeit zu nehmen. Auch er braucht Zeit, das Kind kennenzulernen, seine Partnerin neu kennenzulernen, das Geburtsgeschehen seelisch zu verarbeiten und sich in seinen neuen Aufgaben zu erproben. Am besten ist ein Netz von Freundinnen und Freunden, Nachbarn und Verwandten, die helfen, es der neuen Familie 40 Tage lang möglichst gut gehen zu lassen.

Wie können Außenstehende helfen?

Eine Vertrauensperson könnte zum Beispiel organisieren, dass die Familie eine Zeitlang bekocht wird: hin und wieder eine warme Mahlzeit plus Abwasch. Oder Einkäufe machen, sich gegebenenfalls mit den Geschwistern des Neugeborenen beschäftigen, die Wäsche übernehmen oder einfach nur zuhören.

Nach den ersten Tagen der Erholung, des Neuen und Aufregenden braucht es noch Zeit, sich im Alltag als Familie einzurichten. Es dürfte nicht sein, wie es leider oft der Fall ist, dass sich die Mutter nach den ersten ereignisreichen Wochen mit ihrem Kind plötzlich alleingelassen fühlt.

Passt soviel Muße in unsere schnelllebige Zeit?

Jedenfalls würde sie vielen Paaren guttun – und 40 Tage sind im Leben eines Menschen ja eigentlich nicht viel. Niemand weiß vorher, wie es einem nach der Geburt des Kindes geht. Auch hier lässt sich das Leben nicht vorausplanen. Aber die Bedingungen des Wochenbetts können gut geplant werden, am besten schon früh in der Schwangerschaft. Außerdem sollte die Begleitung durch die Hebamme in der Nachsorge nicht zu früh beendet werden.

Wie meinen Sie das?

Die intensivste Betreuung durch die Hebamme findet sicherlich in den ersten Tagen nach der Geburt statt. Wenn alles gut läuft und alle glücklich sind, verzichten viele Frauen dann auf weitere Hilfe. Meine Empfehlung ist aber, sich auf jeden Fall noch einmal am vierzigsten Tag des Wochenbetts zu treffen, als Abschluss dieser wichtigen Zeit, für einen Rückblick und Ausblick.

Was beschäftigt Frauen seelisch im Wochenbett?

Mit allen Sinnen entwickelt sich die neue Bindung zwischen Mutter und Kind. Die Mutter lernt, die Signale des Kindes und seine Bedürfnisse zu verstehen und darauf zu reagieren. Viele Frauen haben ein großes Bedürfnis, über die Geburt zu sprechen, besonders, wenn sie sehr anstrengend oder gar traumatisch war. Das gilt aber auch, wenn alles gut gegangen ist und die Frau immer wieder von der großartigen Erfahrung berichten möchte, ein Kind zur Welt gebracht zu haben. Dieses Erlebnis braucht einen positiven Widerhall.

Außerdem – und das wird häufig von den Frauen selbst unterschätzt – haben viele parallel zu der aufwühlenden Erfahrung ihrer Liebe zum neugeborenen Kind ein großes Bedürfnis nach Bemutterung. Ich meine damit tatsächlich die Fürsorge durch die eigene Mutter. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Frau, die Mutter geworden ist, sich auch mit der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter auseinandersetzt. Oft entsteht dabei ein großes Bedürfnis nach der Geborgenheit durch die eigene Mutter, auch wenn sie sich das vorher nicht vorstellen konnte.

Manche Frauen haben ein gespanntes Verhältnis zu Ihrer Mutter.

Sicher. Außerdem wohnen die Mütter oft weit weg und sind häufig noch berufstätig. Aber ich plädiere dafür, dass die Frauen ihren Müttern für die Zeit des Wochenbetts eine Chance geben, an diesem Teil ihres Lebens teilzunehmen. Die Tochter ist nun ebenfalls eine Mutter, und plötzlich kann sich die Beziehung zur eigenen Mutter verändern. Vielleicht gibt es zum ersten Mal Gespräche über die Schwangerschaften und die Geburten, die beide erlebt haben. Oft ist in dieser so besonderen Zeit des Wochenbetts mit einem Mal mehr gegenseitige Anerkennung möglich.

Was beschäftigt Männer in dieser Zeit besonders?

Männer sind nach der Geburt ihres Kindes häufig sehr damit beschäftigt, dass sie den Geschlechtsunterschied zwischen sich und ihrer Partnerin plötzlich viel deutlicher wahrnehmen. Das geschieht oft unbewusst und kann auch ihre Sexualität beeinflussen. Waren sie bei der Geburt dabei, haben sie ihre Partnerin in einem körperlichen und seelischen Zustand erlebt wie noch nie zuvor. Das kann verstörend, aber auch ein großes Erlebnis sein.

Vor allem aber beschäftigen sich die Männer mit ihrer Beziehung zum Kind. Jetzt ist es da und mit allen Sinnen wahrzunehmen. Sie können aber nicht stillen. Welche Aufgaben sollen sie also jetzt, vorübergehend und langfristig übernehmen? Das ist ein komplexer Prozess des Ausprobierens und Aushandelns.

Was können Eltern für sich tun?

Für beide ist es wichtig, diesen Anfang in seiner besonderen Bedeutung bewusst zu erfahren. Bei allem Glück ist es auch eine anstrengende Zeit. Sie sollten gut mit ihren Kräften wirtschaften. Oft haben die Eltern in den ersten Tagen auch ein Bedürfnis, über die Geburt zu reden. Miteinander und vielleicht mit den Menschen ihres Vertrauens, bei denen sie das, was sie beschäftigt, frei äußern können.

Kann ein gut gelebtes Wochenbett späteren Paarkonflikten vorbeugen?

Wenn ein Paar sich genügend Zeit und Raum gibt und wenn es eine entsprechende respektvolle Unterstützung von außen erfährt, dann sind die Chancen groß, dass beide eine Position in dem neuen Beziehungsdreieck finden, in der sie sich wohlfühlen. Dann kann Vertrauen wachsen, als Grundvoraussetzung für die glückliche Beziehung zum neugeborenen Kind und zueinander.

Stand: 06.01.2016
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